Das Mädchen hob den Kopf und lächelte sanft. „Das Ticket, das deine Frau dir gekauft hat… Flieg nicht mit diesem Flug. Komm nach Hause zurück. Dort wartet etwas auf dich.“
Der Flughafen lebte sein gewohntes Leben – Stimmengewirr, Lautsprecherdurchsagen, der Geruch von Kaffee und Kerosin. Alex ging schnell, fast wie im Autopilot, um seinen Anschlussflug zu erreichen. Er mochte Flughäfen nicht: zu viel Lärm, zu viele Menschen, zu viel Warten. Aber heute war er besonders gereizt – zu Hause hatte er Streit mit seiner Frau, auf der Arbeit drängten die Deadlines und vor ihm lag eine Geschäftsreise, die er schon lange absagen wollte.
Er bog zum Flugsteig ab, als etwas Weiches gegen sein Bein stieß. Er verlor fast das Gleichgewicht und streckte reflexartig die Arme aus, um sich vor dem Sturz zu retten.

„Verdammt!“, stieß Alex hervor, als er wieder Halt fand. „Was machst du denn hier?“
Auf dem Boden, an der Wand, saß ein etwa zehnjähriges Mädchen mit gekreuzten Beinen. Sie sah ganz normal aus: dunkle Locken, ein abgenutzter Rucksack, Turnschuhe, die offensichtlich schon viele Abenteuer überstanden hatten. Aber in ihren Augen lag zu viel Ruhe, als würde sie die Welt von außen betrachten.
Das Mädchen hob den Kopf und sah ihn mit einem Ausdruck an, der überhaupt nicht zu einem Kind passte.
„Entschuldigung“, sagte sie, aber ohne Angst. „Es ist einfach bequemer, hier zu warten.“
Alex wollte noch etwas murren, aber das Mädchen beugte sich plötzlich vor, als würde sie ihm ein Geheimnis verraten:
„Sie sollten diesen Flug nicht nehmen.“
Er blinzelte.
„Was?“

„Das Ticket, das Ihre Frau gekauft hat … es führt Sie in die falsche Richtung“, sagte das Mädchen leise, aber bestimmt. „Kehren Sie um. Gehen Sie nach Hause. Dort müssen Sie sein.“
Alex schnaubte, winkte ab und ging weiter.
„Wahrscheinlich sind ihre Eltern irgendwo in der Nähe. Irgendein Spiel“, dachte er, aber das Gefühl der Unbehaglichkeit blieb wie ein Stachel in ihm stecken.
Vor dem Einsteigen schaute er in ein Café. Während er seinen Kaffee trank, kamen ihm die Worte des Mädchens immer wieder in den Sinn. Er sah sich sogar um – vielleicht würden ihre Eltern das seltsame Verhalten ihres Kindes erklären –, aber das Mädchen war nirgends zu sehen.
Sein Telefon vibrierte. Es war seine Frau Elena.
„Alex … wo bist du?“, ihre Stimme zitterte, aber sie klang fröhlich. „Bist du schon im Flugzeug?“
„Noch nicht, sie werden gleich mit dem Einsteigen beginnen“, sagte er.
„Ich habe Neuigkeiten …“, sie verstummte und suchte nach Worten. „Chloe … ist schwanger. Du wirst Großvater.“

Er erstarrte. Großvater. Dieses Wort war wie ein Lichtblitz in ihm. Seine Tochter, seine kleine Chloe… würde bald Mutter werden.
Und er war weit weg. Wie immer.
„Alex? Hörst du mich?“
„Ja“, brachte er hervor. „Ich… gratuliere dir.“
Aber die Freude, gemischt mit Sorge, ließ ihn nicht tief durchatmen.
Die Worte des Mädchens hallten erneut in seinem Kopf wider: „Gehen Sie nach Hause. Dort erwartet Sie ein Geschenk des Schicksals.“
Und das stimmte. Die Geburt einer neuen Generation – war das nicht ein Geschenk?
Er stand abrupt auf und ging zum Schalter der Fluggesellschaft.
„Ich möchte mein Ticket zurückgeben“, sagte er.
Die Frau am Schalter schaute ihn überrascht an, nahm aber seine Erklärung entgegen. Ein paar Minuten später saß Alex schon im Taxi auf dem Weg nach Hause und verspürte zum ersten Mal seit langer Zeit eine seltsame, angenehme Ruhe. Es war, als wäre etwas Schweres, das lange Zeit auf ihm lastete, endlich verschwunden.

Doch zwanzig Minuten später ertönte eine alarmierende Stimme aus dem Radio im Fahrzeug:
„Eilmeldung. Flug 714 auf dem Weg nach Chicago ist vom Radar verschwunden. An Bord befanden sich 148 Passagiere …“
Alex schnappte scharf nach Luft. Er senkte den Blick auf den zerknüllten Bordpass in seiner Hand – Flug 714. Sein Flug.
Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
„Sie haben Glück“, sagte der Fahrer, als er seine Reaktion bemerkte. „Viele Menschen würden sich wünschen, heute zu spät zu kommen.“
Aber Alex konnte nicht antworten. Er hörte wieder die ruhige Stimme des Mädchens. Ihre Warnung. Ihre seltsame Zuversicht.
Das Taxi bog in die Straße seines Viertels ein, und plötzlich schien alles wieder real zu sein. Sein Zuhause. Sein Leben. Seine Familie. Eine zweite Chance.
Doch als er sich dem Eingang näherte, sah er einen Polizeiwagen vor der Tür stehen. Zwei Personen – ein Mann in Uniform und eine Frau in Zivil – standen neben der Tür.
Alex‘ Herz zog sich zusammen.

Das Taxi hielt an. Alex stieg aus.
„Alexei Kornilow?“, fragte die Frau.
„Ja. Was ist los?“
„Wir suchen Ihre Nachbarin, ein Mädchen, etwa zehn Jahre alt“, sagte sie. „Beschreibung: dunkle Haare, brauner Rucksack. Sie wird seit etwa vier Stunden vermisst.“
Alex spürte, wie ihm noch kälter wurde.
„Ich habe das Mädchen am Flughafen gesehen. Sie hat seltsame Dinge gesagt.“
„Was denn?“, fragte der Polizist interessiert.
„Dass ich nicht fliegen sollte. Dass zu Hause etwas Wichtiges auf mich wartet.“
Die Polizisten tauschten Blicke aus.
„Dieses Mädchen …“, sagte die Frau vorsichtig. „Sie heißt Ariana. Vor fünf Jahren hatte sie zusammen mit ihrem Vater einen Unfall. Seitdem spricht sie nicht mehr. Fast vollständig. Manchmal… macht sie seltsame Dinge. Sie kann stundenlang verschwinden. Sie wohnt im Nachbarhaus.

Alex schwieg.
„Ihre Mutter sagte, dass das Mädchen oft ein „ungutes Gefühl“ habe. Aber das …“, die Frau zuckte mit den Schultern, „… erklären die Ärzte mit einem Trauma.“
Alex erinnerte sich an Ariana’s Blick. Zu ruhig. Zu erwachsen.
„Wir werden die Kameras am Flughafen überprüfen“, fügte sie hinzu. „Vielleicht war sie wirklich dort.“
Die Polizisten gingen und ließen Alex vor der Tür stehen, als stünde er zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Er ging in die Wohnung hinauf. Elena fiel ihm um den Hals.
„Warum bist du zurückgekommen?“, fragte sie, obwohl ihre Augen vor Erleichterung strahlten.
Er wollte die Wahrheit sagen, schwieg aber. Was sollte er sagen? Dass ein fast unbekanntes Mädchen ihm das Leben gerettet hatte?

Sie umarmten sich. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Alex, dass es zu Hause wirklich warm war.
Ein paar Minuten später klingelte es an der Tür. Alex wollte öffnen – er dachte, es könnten die Polizisten sein.
Aber auf der Schwelle stand sie.
Ariana.
Klein, still, mit demselben Rucksack.
Sie streckte die Hand aus. In ihrer Handfläche lag ein kleiner Anhänger. Silberfarben, in Form eines Flügels.
„Das ist für dich“, sagte das Mädchen. „Damit du nicht vergisst, dass man manchmal rechtzeitig den Weg ändert.“
Alex nahm das Anhängerchen vorsichtig entgegen.
„Danke …“, sagte er und beugte sich zu ihr hinunter. „Ariana, warum hast du mir geholfen?“
Das Mädchen hob den Blick. Ihre Augen waren erschreckend reif.

„Weil man dich jetzt zu Hause braucht“, sagte sie. „Deine Tochter braucht dich. Und noch jemand.“
„Noch jemandem?“, fragte Alex zurück.
Ariana nickte.
„Ihre Frau erwartet ein Kind. Sie wird es in zwei Tagen erfahren. Und wenn Sie weggeflogen wären, hätten Sie alles verpasst.“
Die Welt schwankte erneut.
Elena … ist schwanger?
Ariana lächelte und ohne auf seine Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging die Treppe hinunter.
Alex stand da, hielt den Anhänger in der Hand und versuchte, alles zu begreifen, was er gehört hatte. Es war, als hätte ihn das Schicksal heute an der Hand genommen und einfach in eine andere Richtung gedreht.
Elena trat auf den Flur hinaus.

„Wer war da?”, fragte sie.
Alex schloss die Tür, zog sie an sich und flüsterte:
„Ein Geschenk des Schicksals.”
Und zum ersten Mal seit vielen Monaten wusste er: Er war im richtigen Moment zu Hause.
Und dieses Mal – für immer.