Ich gab einer älteren Frau eine kostenlose Taxifahrt – ein paar Wochen später fand ich mich in einem erbitterten Rechtsstreit wieder, mit dem ich nie gerechnet hatte

Als Marcus bei seiner letzten Nachtschicht eine mysteriöse ältere Frau abholte, berührte ihre wehmütige Bitte um eine lange Fahrt durch Straßen voller Erinnerungen sein Herz. Er dachte, es sei nur eine nette Geste – bis er sich einige Wochen später in einem Rechtsstreit wiederfand, der sein Leben ruinieren sollte.

Es war schon spät am Abend, als ich beschloss, das Gespräch zu beenden. Meine Augen waren schwer, und die Gedanken an Sarah und die Kinder gingen mir durch den Kopf.
Sie fragten mich immer, warum ich so lange arbeitete, und ich hatte nie eine gute Antwort, außer: „Rechnungen zahlen sich nicht von selbst“.
Ich schaltete die Bereitschaftsanzeige des Taxis aus und wollte den Wagen gerade in den Fahrmodus versetzen, als das Telefon klingelte. Eine letzte Anfrage nach einer Mitfahrgelegenheit.

„Heute nicht“, murmelte ich und wollte ablehnen. Aber etwas ließ mich innehalten.
Die Adresse war nur zehn Minuten entfernt, in einem dieser alten Viertel, wo viktorianische Häuser die ruhigen Straßen säumten.
Letzte Fahrt, letzte Fahrt, und der Abholpunkt war so nah… es gab keinen Grund, dies nicht auszunutzen. So sehr ich auch nach Hause wollte, jeder Dollar war wichtig.

Ich stimmte zu und fuhr hinaus in den Abendverkehr.
Ein paar Minuten später hielt ich vor einem dunklen Haus mit Efeu an den Wänden und abblätternder Farbe, die wahrscheinlich einmal weiß war. Keine einzige Straßenlaterne war an. Ich hupte, aber im Haus rührte sich nichts. Ich überprüfte die Adresse noch einmal – es war das gleiche Haus.
„Komm schon, Marcus“, sagte ich zu mir selbst. „Geh einfach nach Hause.“
Aber dieses nagende Gefühl wollte mich nicht loslassen. Seufzend stellte ich den Wagen auf den Parkplatz, ging zur Haustür und klopfte.

Eine zerbrechliche Stimme rief von drinnen: „Nur eine Minute!“
Ich hörte, wie etwas Schweres langsam und methodisch über den Boden geschleift wurde. Meine Finger trommelten nervös auf den Türrahmen.
Als sich die Tür schließlich knarrend öffnete, sah ich mich nicht einer Gefahr gegenüber, sondern einer zierlichen Frau, die mindestens neunzig Jahre alt war.

Sie trug einen hellblauen Pillbox-Hut, der aussah, als stamme er aus den 1960er Jahren, und ein Kleid mit Blumenmuster, das der Zeit entsprach. Eine Perlenkette glitzerte sanft um ihren Hals.
Hinter ihrem Rücken schien das Haus in der Zeit stehen geblieben zu sein. Weiße Laken hingen wie Gespenster über den Möbeln, und die Wände waren kahl bis auf die verblichenen Stellen, an denen einst Bilder gehangen hatten.
In der Ecke stand ein Pappkarton voller alter Fotos, deren Ränder von der Zeit ausgefranst waren. Die Luft roch nach Lavendel und Erinnerungen.

„Könnten Sie meine Tasche zum Auto bringen?“ – fragte sie und deutete auf einen kleinen, abgenutzten Koffer.
„Klar. Ich helfe gern.“ Ich hob den Koffer auf, staunte über seine Leichtigkeit, und reichte ihr die Hand.
Sie nahm sie mit überraschender Anmut, als würden wir eher einen Walzer tanzen als die knarrenden Stufen ihrer Veranda hinaufgehen.

„Pass auf die dritte Stufe auf“, mahnte sie. „Sie ist seit 1982 wackelig. Frank wollte sie immer reparieren, aber du weißt ja, wie Ehemänner mit ihren To-Do-Listen sind.“
Als wir in das Taxi stiegen, nannte sie mir die Adresse, zögerte dann aber. „Könnten Sie nicht den längeren Weg nehmen? Durch das Stadtzentrum?“
Ich schaute auf meine Uhr. „Es ist nicht der kürzeste Weg.“

„Oh, das macht mir nichts aus“, sagte sie leise. „Ich bin nicht in Eile. Ich gehe ins Hospiz.“
Mein Herz krampfte sich zusammen. Im Rückspiegel sah ich, wie ihre Augen von unverdauten Tränen glitzerten. Die Straßenlaternen beleuchteten das Silber ihres Haares und ließen es wie Sternenlicht leuchten.
„Ich habe keine Familie mehr“, fuhr sie fort und glättete ihr Kleid mit zitternden Händen. „Der Arzt sagt, ich habe nicht mehr lange zu leben.“

Nur ein Mann mit einem eiskalten Herzen konnte ihr diese Bitte abschlagen, und zu denen gehörte ich nicht. Ich schaltete den Zähler aus und sah sie über meine Schulter an.
„Welchen Weg willst du nehmen?“
In den nächsten zwei Stunden fuhren wir durch die schlafende Stadt, während sie ihre Lebensgeschichte erzählte.

Die ältere Frau hatte dreißig Jahre lang als Sekretärin in dem alten Thompson-Gebäude gearbeitet. Sie zeigte mir das winzige Haus, in dem sie mit ihrem Mann Frank lebte, bis er vor 15 Jahren verstarb.
„Wir haben sieben Jahre lang gespart, um dieses Haus zu kaufen“, sagte sie und schaute mit einem sanften Lächeln aus dem Fenster. „Alle sagten, wir seien verrückt, weil wir so ein kleines Haus wollten, aber es war perfekt für uns. Sehen Sie die große Eiche da hinten? Frank hat den Kindern ein Baumhaus gebaut.“
Als wir an einem verfallenen Lagerhaus vorbeifuhren, bat sie mich, langsamer zu fahren. Ihre Augen leuchteten auf, als sie sich das Gebäude ansah.
„Das war der Ballsaal… hier habe ich meinen Mann kennengelernt“, sagte sie, und ihre Stimme wurde warm von den Erinnerungen. „Bei unserem ersten Tanz ist er mir auf mein Kleid getreten. Ich hielt ihn für einen stümperhaften Trottel.“
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Und er hat dir das Gegenteil bewiesen?“
„Oh nein, er war die ganze Zeit über ungeschickt. Aber er war mein ungeschickter Narr.“ Sie lachte leise, dann verstummte sie. „Wir haben hier jeden Jahrestag getanzt, bis dieser Ort abgerissen wurde.“

Wir saßen eine Weile da und betrachteten das alte Lagerhaus, das einmal ein Ballsaal gewesen war.
Mein Herz schmerzte für die Welt, die sie verloren hatte, für die Orte, an denen sie wertvolle Erinnerungen hatte, die die Zeit für immer verändert hatte. Sie holte tief Luft, und ich drehte mich zu ihr um, um sie anzusehen.
„Danke, dass du das für mich tust … Ich weiß nicht einmal deinen Namen.“
„Marcus“, antwortete ich.
Sie lächelte. „Mein Name ist Margaret. Danke, dass du mir diese Orte ein letztes Mal zeigst, Marcus, aber ich werde müde. Lass uns zum Hospiz gehen.“
Als die Dämmerung den Himmel färbte, fuhr ich sie zu der Adresse, die sie mir genannt hatte. Als wir anhielten, kamen zwei Pfleger mit einem Rollstuhl heraus. Als Margaret versuchte, mich zu bezahlen, schüttelte ich den Kopf.

„Aber Sie müssen doch Ihren Lebensunterhalt verdienen“, protestierte sie und hielt ihre offene Handtasche in ihrem Schoß.
„Es gibt noch andere Fahrgäste.“ Ich half ihr aus dem Auto, und sie umarmte mich überraschend mit ihren gebrechlichen Armen.
„Du hast heute Abend einer älteren Frau eine Freude gemacht“, flüsterte sie. „Danke, Marcus.“
Einen Monat später rief mein Fahrdienstleiter an und teilte mir mit, dass mein Wagen in demselben Hospiz angefordert worden war, in das ich Margaret gebracht hatte. Als ich dort ankam, wartete ein Mann in einem teuren Anzug am Bordstein auf mich.

„Marcus?“ – fragte er. „Ich bin Margarets Anwalt. Sie wollte Sie sehen, bevor sie starb.“
Er führte mich durch einen ruhigen Korridor in ein schwach beleuchtetes Zimmer, in dem Margaret im Bett lag und kleiner aussah als je zuvor. Ihre Finger waren kalt, als sie meine Hand nahm.
„Ich wusste, dass du kommen würdest“, sagte sie. „Ich habe nicht viel Zeit, also hören Sie gut zu.“

Ihr Anwalt öffnete eine Mappe, während Margaret mir erklärte, dass sie mir ihr Haus und ihre Ersparnisse von etwa 100.000 Dollar hinterließ.
„Margaret, das kann ich nicht annehmen“, sagte ich stotternd.
„Doch, das kannst du.“ Ihre Stimme wurde fest, und einen Moment lang sah ich die Stärke, die sie 90 Jahre lang getragen hatte. „20 Jahre lang hat meine Familie vergessen, dass es mich gibt. Keine Telefonanrufe. Keine Besuche. Nichts. Sie haben mich wie ein menschliches Wesen behandelt. Sie haben mich gesehen.“

Ich besuchte Margaret jeden Tag, bis sie friedlich im Schlaf entschlief. Als keiner ihrer Verwandten kam, um sie abzuholen, organisierte ich ihre Beerdigung.
Doch am Tag der Beerdigung erschienen drei schwarz gekleidete Fremde mit vor Wut verzerrten Gesichtern.
„Wir sind ihre Enkelkinder“, spottete einer von ihnen. „Und wer sind Sie?“
Der vierte Mann trat vor, sein Gesicht hart wie Granit. „Und ich bin ihr Sohn. Ich bin hier, um das Erbe meiner Mutter zu regeln.“

Das plötzliche Interesse an Margaret bereitete mir Bauchschmerzen, aber ich schwieg. Eine Woche später erhielt ich die Gerichtspapiere.
Die teuren Anwälte der Familie beschuldigten mich der Manipulation und des Erbschaftsbetrugs. Sie saßen selbstgefällig im Gerichtssaal und waren siegessicher. Aber Margaret hatte alles vorausgesehen.
„Der Verstorbene hat die Zeugenaussage aufgenommen, die jetzt gehört werden soll“, verkündete der Richter.

Es herrschte Stille im Gerichtssaal, als Margarets müdes, aber entschlossenes Gesicht auf dem Bildschirm erschien.
„Meine so genannte Familie“, begann sie, “ich habe auf Sie gewartet. Ich hatte gehofft, dass dies das letzte Mal sein würde, dass ich euch alle sehen würde. Aber ihr habt mich zwanzig Jahre lang ignoriert. Keine Geburtstage. Keine Feiertage. Nichts. Aus Vernachlässigung kann man kein Kapital schlagen.“
Ihr Sohn spottete, aber Margaret beugte sich näher an die Kamera heran, mit grimmigem Blick. „Ich war bei klarem Verstand, als ich mein Testament änderte. Alle Ärzte haben es bestätigt. Alle Papiere sind unterschrieben. Und wenn Sie es wagen zu behaupten, ich sei manipuliert worden, dann fragen Sie sich, warum ein Fremder mich in einer Nacht freundlicher behandelt hat als Sie in zwanzig Jahren.“

Der Richter wies die Klage sofort mit der Begründung ab, dass Margaret ihre Absichten deutlich gemacht und alles genau dokumentiert hatte.
Als ich vor dem Gerichtsgebäude stand, spürte ich, wie mich die Last der letzten Monate überkam. Margaret hatte gewonnen. Nach jahrzehntelangem Schweigen wurde ihr endlich Gehör geschenkt.
An diesem Abend ging ich nach dem Abendessen mit meiner Familie in den Park und wir sahen uns gemeinsam den Sonnenuntergang an.

Ich versprach mir, Margarets Andenken zu ehren, nicht nur, indem ich ihre Geschenke aufbewahrte, sondern auch, indem ich jeden Fahrgast mit der gleichen Freundlichkeit behandelte, die ich ihr an diesem Abend entgegengebracht hatte.