Ich sah mir gerade ein Bild von meiner verstorbenen Frau und mir an, als etwas aus dem Rahmen fiel und mich blass werden ließ

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Ich sah mir gerade ein Bild von meiner verstorbenen Frau und mir an, als etwas aus dem Rahmen fiel und mich blass werden ließ

An dem Tag, an dem ich Emily beerdigte, hatte ich nur noch unsere Bilder und Erinnerungen. Doch als an jenem Abend etwas hinter unserem Verlobungsfoto hervorlugte, zitterten meine Hände. Was ich entdeckte, ließ mich daran zweifeln, ob ich meine Frau überhaupt jemals gekannt hatte.

Das Beerdigungsinstitut hatte ein schwarzes Band an unsere Eingangstür geknüpft. Ich betrachtete es, während ich den Schlüssel ins Schloss steckte, und fragte mich, wer das für nötig gehalten hatte.

Als ob die Nachbarn nicht schon wüssten, dass ich den ganzen Tag auf dem Friedhof gewesen war und zugesehen hatte, wie meine Frau in die Erde gesenkt wurde, während Reverend Matthews von Engeln und ewiger Ruhe sprach.

Meine Hände zitterten, als ich endlich die Tür öffnete. Im Haus roch es nach etwas Unangenehmem – nach Lederpolitur und Kondolenztöpfen.

Emilys Schwester Jane hatte mir in den letzten Tagen, als ich im Krankenhaus war, beim Putzen „geholfen“. Jetzt funkelte alles in einem künstlichen Glanz, dass mir die Zähne weh taten.

„Home, sweet home, eh, Em?“, rief ich maschinell aus, ertappte mich aber sofort dabei, dass ich darüber nachdachte. Das Schweigen, das daraufhin eintrat, fühlte sich wie ein körperlicher Schlag an.

Ich lockerte meine Krawatte, die blaue, die Emily mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, und stieß meine Schuhe aus. Sie schlugen mit einem dumpfen Schlag gegen die Wand.

Emily schimpfte mit mir, presste die Lippen zusammen und versuchte, nicht zu lächeln, als sie mir einen Vortrag über Kratzspuren hielt.

„Tut mir leid, Liebling“, murmelte ich, ließ meine Schuhe aber stehen, wo sie waren.

In unserem Schlafzimmer war es noch schlimmer als im Rest des Hauses. Jane hatte die Bettwäsche gewechselt – wahrscheinlich, um nett zu sein -, aber der Geruch der frischen Wäsche unterstrich nur, dass Emilys Geruch verschwunden war.

Das Bett war in den Krankenhausecken bezogen, jede Falte geglättet, um das nachlässige Durcheinander unseres gemeinsamen Lebens auszulöschen.

„Das ist nicht real“, sagte ich in den leeren Raum. „Das kann nicht echt sein.“

Aber das war es. Die Beileidskarten auf der Kommode bewiesen es, ebenso wie die Pillen auf dem Nachttisch, die letztendlich nicht ausreichten, um sie zu retten.

Es war alles so plötzlich passiert. Em war letztes Jahr erkrankt, aber sie hatte die Krankheit bekämpft. Die Chemotherapie hat sie sehr viel Kraft gekostet, aber ich war für sie da und habe sie bei jedem Schritt unterstützt. Schließlich ging der Krebs in Remission.

Wir dachten, wir hätten gewonnen. Doch dann stellte sich bei einer Kontrolluntersuchung heraus, dass der Krebs wieder da war, und zwar überall.

Em hat bis zum Schluss gekämpft wie ein Puma, aber… es war ein verlorener Kampf. Das wurde mir jetzt klar.

Ich brach auf ihrer Seite des Bettes zusammen, ohne mir die Mühe zu machen, meine Trauerkleidung anzuziehen. Die Matratze war nicht mehr in ihrer Form. Hatte Jane sie wirklich umgedreht? Der Gedanke machte mich irrational wütend.

„Fünfzehn Jahre“, flüsterte ich in Emilys Kopfkissen. „Fünfzehn Jahre, und so soll es enden? Eine Schleife an der Tür und eine Kasserolle im Kühlschrank?“

Mein Blick fiel auf unser silbergerahmtes Verlobungsfoto, das vom späten Abendlicht beleuchtet wurde. Emily sah darauf so lebendig aus, ihr gelbes Sommerkleid hob sich leuchtend vom Sommerhimmel ab, ihr Lachen wurde leiser, als ich sie herumwirbelte.

Ich nahm sie in den Arm und wollte diesem Moment und der Freude, die wir beide damals empfanden, noch näher sein.

„Erinnerst du dich an diesen Tag, Em? Du sagtest, die Kamera würde unsere Seelen einfangen. Du sagtest, dass du es deshalb hasst, fotografiert zu werden, weil…“

Meine Finger blieben an etwas hinter dem Rahmen hängen.

Da war eine Beule unter der Unterlage, die nicht hätte sein dürfen.

Stirnrunzelnd tastete ich sie erneut ab. Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, zog ich die Rückwand auseinander. Etwas rutschte heraus und fiel wie ein heruntergefallenes Blatt auf den Teppich.

Mein Herz sank.

Es war ein weiteres Foto, alt und leicht geknickt, als hätte ich es schon oft in den Händen gehalten, bevor ich es versteckte.

Auf dem Bild saß Emily (Gott, sie sah so jung aus) in einem Krankenhausbett und hielt ein Neugeborenes im Arm, das in eine rosa Decke gewickelt war.

Ihr Gesicht war so, wie ich es noch nie gesehen hatte: abgemagert, verängstigt, aber mit einer unbändigen Liebe, die mir den Atem raubte.

Ich konnte nicht verstehen, was ich da sah. Obwohl wir es versucht hatten, waren Emily und ich nie in der Lage gewesen, Kinder zu bekommen, also wessen Baby war das?

Mit zitternden Fingern drehte ich das Foto um. Emilys Handschrift, aber zittriger, als ich sie kannte: „Mum will always love you.“

Darunter stand eine Telefonnummer.

„Was?“ Das Wort klang wie ein Schrei. „Emily, was ist los?“

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

Das Telefon lag schwer in meiner Hand, als ich die Nummer wählte, ohne Rücksicht darauf, dass es schon fast Mitternacht war. Jedes Klingeln hallte in meinem Kopf nach wie eine Kirchenglocke.

„Hallo?“ Eine Frau meldete sich, ihre Stimme war warm, aber zurückhaltend.

„Tut mir leid, dass ich so spät anrufe.“ Meine Stimme klang seltsam in meinen Ohren. „Mein Name ist James. Ich … ich habe gerade ein Foto von meiner Frau Emily mit einem Baby gefunden, und diese Nummer …“

Das Schweigen dauerte so lange, dass ich dachte, sie hätte aufgelegt.

„Endlich“, sagte sie so leise, dass ich es fast überhörte. „Oh, James. Ich habe seit Jahren auf diesen Anruf gewartet. Es ist ewig her, dass Emily sich gemeldet hat.“

„Emily ist tot.“ Die Worte klangen wie Asche. „Die Beerdigung war heute.“

„Das tut mir so leid.“ Ihre Stimme knackte vor echter Trauer. „Ich bin Sarah. Ich … ich habe Emilys Tochter Lily adoptiert.“

Das Zimmer kippte zur Seite. Ich hielt mich an der Bettkante fest. „Tochter?“

„Sie war neunzehn“, erklärte Sarah leise. „Sie war in ihrem ersten Jahr am College. Sie wusste, dass sie ihrem Kind nicht das Leben bieten konnte, das es verdiente. Es war die schwerste Entscheidung ihres Lebens.“

„Wir haben jahrelang versucht, Kinder zu bekommen“, sagte ich, und in meiner Trauer flammte plötzlich Wut auf. „Jahrelange Behandlungen, Spezialisten, Enttäuschungen. Sie hat nie ein Wort darüber verloren, ein Kind vor mir zu haben. Niemals.“

„Sie hatte Angst“, sagte Sarah. „Angst davor, dass du sie verurteilst, Angst davor, dass du sie verlässt. Sie hat dich so sehr geliebt, James. Manchmal bringt uns die Liebe dazu, unmögliche Dinge zu tun.“

Ich schloss die Augen und erinnerte mich an ihre Tränen während der Fruchtbarkeitsbehandlungen und daran, wie sie meine Hand zu fest drückte, wenn wir an Spielplätzen vorbeigingen.

Ich nahm an, dass es daran lag, dass wir uns beide so verzweifelt ein Kind wünschten, aber jetzt fragte ich mich, wie viel davon auf die Sehnsucht nach der Tochter zurückzuführen war, die sie aufgegeben hatte.

„Erzähl mir von ihr“, hörte ich mich sagen. „Erzähl mir von Lily.“

Sarahs Stimme wurde heller. „Sie ist jetzt fünfundzwanzig. Eine Kindergärtnerin, wenn Sie das glauben können. Sie hat Emilys Lachen, ihre Fähigkeit, mit Menschen in Kontakt zu treten. Sie wusste immer, dass sie adoptiert wurde, und sie weiß von Emily. Würdest du… würdest du sie gerne kennenlernen?“

„Natürlich!“, antwortete ich.

Am nächsten Morgen saß ich in einer Ecknische des Cafés und war zu nervös, um meinen Kaffee anzurühren. Die Glocke über der Tür bimmelte und ich schaute auf.

Es war, als hätte man mir mit der Faust auf die Brust geschlagen.

Sie hatte Emilys Augen und ihr Lächeln. Sie hatte sogar ihr Haar hinters Ohr gestrichen, wie Amy es getan hätte, als sie sich im Raum umsah. Als sich unsere Blicke trafen, erkannten wir beide einander.

„James?“ Ihre Stimme zitterte.

Ich stand auf und stieß dabei fast meinen Stuhl um. „Lily.“

Sie stürzte nach vorne und schlang ihre Arme um mich, als hätte sie ihr ganzes Leben darauf gewartet. Ich zog sie an mich und atmete den Duft ihres Shampoos ein – Lavendel, genau wie der von Emily.

„Ich kann nicht glauben, dass du hier bist“, flüsterte sie und kuschelte sich an meine Schulter. „Als meine Mutter heute Morgen anrief… Ich habe mich immer über dich gewundert, über den Mann, den meine Mutter geheiratet hat.“

Wir redeten ein paar Stunden lang. Sie zeigte mir Bilder auf ihrem Handy: ihren College-Abschluss, die erste Klasse und ihre Katze. Ich erzählte ihr Geschichten über Emily, über unser gemeinsames Leben und darüber, was für eine Frau ihre Mutter geworden war.

„Sie hat meiner Mutter jedes Jahr eine Geburtstagskarte geschickt“, sagt Lily und wischt sich die Tränen aus den Augen.

„Wir haben nie miteinander gesprochen, aber meine Mutter sagte mir, dass sie ab und zu anrief, um zu fragen, wie es mir geht.“

Als ich dieses wunderschöne, brillante Mädchen sah, in dessen Augen Emilys Güte leuchtete, begann ich Emilys Geheimnis auf eine andere Art zu verstehen.

Es war nicht nur Scham oder Angst, die sie zum Schweigen brachte. Sie wollte Lily schützen und ihr ein sicheres und stabiles Leben mit Sarah ermöglichen. Es muss für Amy sehr schmerzhaft gewesen sein, dieses Geheimnis zu bewahren, aber sie tat es aus Liebe zu ihrem Kind.

„Ich wünschte, ich hätte das früher gewusst“, sagte ich und hielt Lily meine Hand hin. „Aber ich glaube, ich verstehe, warum sie es mir nicht gesagt hat. Es tut mir leid, dass du sie nicht besser kennen lernen kannst, aber ich möchte, dass du weißt, dass ich immer für dich da sein werde, okay?“

Lily drückte meine Finger. „Meinst du … vielleicht könnten wir es wieder tun? Einander besser kennenlernen?“

„Das würde mir gefallen“, sagte ich und fühlte zum ersten Mal seit Emilys Tod etwas Warmes in meiner Brust aufblühen. „Das würde mir wirklich gefallen.“

In dieser Nacht legte ich das versteckte Foto neben unser Verlobungsfoto auf meinen Nachttisch.

Emily lächelte mich aus beiden Rahmen an, jung und alt, vorher und nachher, immer mit Liebe in den Augen. Ich berührte ihr Gesicht durch das Glas hindurch.

„Du machst das toll, Em“, flüsterte ich. „Du bist wirklich gut. Und ich verspreche dir, dass ich mich gut um sie kümmern werde. Mit euch beiden.“